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Annie Michaelis: „Ich laufe mir die Seele frei“

Annie Michaelis (Zweite von links) im Kreise von Kolleginnen und Kollegen des Palliativpflegeteams im Eupener Krankenhaus. Sie wollen den Menschen auch in der letzten Lebensphase noch ein Leben in Würde ermöglichen.
 
Ein Bild mit Symbolcharakter: In der Palliativpflege will Annie Michaelis stets Ruhe ausstrahlen. Daher setzt sie sich jeden Morgen mit einer Kaffeetasse in der Hand zu den Menschen und geht auf ihre Wünsche und Bedürfnisse ein. | Foto: David Hagemann

 

Als dritte Frau nach Mariechen Kurth (2003) und Irene Kalbusch (2013) erhält Annie Michaelis am Samstagabend im Rahmen des Festes Rot-Gelb die Goldene Feder, die die Exprinzen der Stadt Eupen zum 31. Mal im Ambassador Hotel vergeben. Ihre Lebensaufgabe ist die Betreuung von Menschen, für die die Medizin nichts mehr tun kann.


Von Heinz Gensterblum
Die 52-Jährige, die aus Medell stammt und seit drei Jahrzehnten in der Weserstadt lebt, ist Koordinatorin des mobilen Palliativpflegeteams am St. Nikolaus-Hospital. In dieser Woche empfing die gelernte Krankenschwester das GrenzEcho auf ihrer Station im „Elisabethhaus“, wo sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen Menschen in der letzten Lebensphase zur Seite steht und sich auch um die seelische Not der Angehörigen kümmert: „Wir können hier noch viel tun, um den Betroffenen das Leben noch lebenswert zu gestalten. Der Patient muss das Gefühl haben, dass er nicht fallengelassen worden ist“, sagt die engagierte Krankenpflegerin zum Einstieg in das Gespräch.

Am Samstag erhalten Sie die Auszeichnung. Was überwiegt bei Ihnen derzeit: die Vorfreude oder die Nervosität?


Die Nervosität war stark vorhanden und hat lange Zeit einen Schatten auf das Ganze gelegt. Diese ist aber nach dem Abschluss meiner Vorbereitungen und der Verleihung der Ehrenmütze gewichen.

Wie sehr hat Sie die Nominierung überrascht? Wie haben Sie überhaupt davon erfahren?


Ich werde den Tag wohl nie vergessen. Es war der 1. September 2017, mein erster Urlaubstag, es klingelte an der Tür. Ich bat die beiden Exprinzen herein und wir unterhielten uns längere Zeit über meine Arbeit. Dann fragten sie, ob ich mir vorstellen könne, warum sie gekommen sind und rückten dann mit der Sprache heraus, dass mein Team und ich für die Goldene Feder nominiert wurden. Ich war sowas von sprachlos und einige Tage sogar verwirrt. Sie haben mich aber überzeugt, dass es einige gute Gründe für diese Auszeichnung gibt. Für mich ist wichtig, dass durch diese Verleihung die Palliativpflege auf breiterer Ebene angesprochen wird, da sie in meinen Augen noch nicht in ausreichendem Maße bekannt ist.

Dechant Helmut Schmitz wird die Laudatio halten. Wie gut kennen sie sich? Was erwarten Sie?


Wir kennen uns sehr gut. In vielen Sterbesituationen rufe ich ihn an. Dann beten wir zusammen und machen gemeinsam die Krankensalbung. Es gibt eine Art der Seelenverwandtschaft, da wir die gleichen Ziele verfolgen. Erwartungen? Ich versuche mit einer möglichst geringen Erwartungshaltung durchs Leben zu gehen, da kann man auch nicht enttäuscht werden. Seine Worte werden aber auf alle Fälle passen, das ist sicher.

Er würdigte Sie bei der Verleihung der Ehrenmütze als „Pionierin, die sich tagtäglich in den Dienst der Menschen stellt und ihnen auch dort noch Lebensqualität verleiht, wo viele sie längst nicht mehr vermuten“. Ist genau das Ihre primäre Aufgabe?


Ja, auf alle Fälle. Damals, als vor 20 Jahren die Palliativpflege durch ein Gesetz verabschiedet wurde, kam man auf mich mit der Bitte zu, die Aufgabe zu übernehmen. Auch bis zu diesem Zeitpunkt war ja gestorben worden, aber jetzt sollte „professioneller“ gestorben werden. Die Patienten haben mir den Einstieg erleichtert. Sie haben mir ihre Wünsche mitgeteilt und daraus sind dann Konzepte entstanden, die ich durch stetige Weiterbildungen vertieft habe. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich Krankenpflegerin, die ein gewisses Faible für diese letzte Phase hatte, was aber nicht meine primäre Aufgabe war.

Wie sieht ein „normaler“ Arbeitstag von Annie Michaelis aus, insofern es diesen überhaupt gibt?


Es ist für mich wichtig, jeden Morgen eine Grundversorgung zu erledigen und den Menschen als Ganzes zu sehen. Dann erkennt man auch, wo die Schmerzen sitzen. Gerade in diesen Gesprächen lerne ich viel und verschaffe mir ein Gesamtbild. Vieles ist nicht planbar und ich bin auch dafür, dass vieles spontan bleibt. Immer, wenn ein Angehöriger an meine Tür klopft, nehme ich mir die Zeit für ein Gespräch. Er will Antworten auf seine Fragen haben und nicht erst morgen. Die Not muss beantwortet werden, wenn sie da ist. Im vergangenen Jahr haben wir 100 Menschen begleitet von vielleicht 200 Menschen, die im Krankenhaus verstorben sind.

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Was macht den Reiz an der Arbeit mit Todkranken und Trauernden aus? Was ist in Ihren Augen die besondere Herausforderung?


Dieses Abschiednehmen ist einer der schwierigsten Wege, die der Mensch zu gehen hat. Mein Idealismus ist es, zu versuchen, den Menschen auf diesem Weg vieles mitzugeben und etwas Last abzunehmen. Diese Sehnsucht, dieser Schmerz und diese Ängste sind mir bekannt, weil ich sie selbst kennengelernt habe. Für mich ist es nicht nur Theorie, ich kann nachfühlen, worum es geht. Wenn ich diesen Weg erleichtern kann, dann ist mein Auftrag erfüllt. Das ist meine Herausforderung.

Nehmen Sie Kummer, Schicksale oder Trauer mit nach Hause?


Ja! Professionell heißt es ja immer so schön, man sollte Abstand nehmen. Das ist weiß Gott nicht immer möglich. Viele Gleichaltrige sterben und da ist man schnell in den Geschichten der Familien drin. Viele haben dann noch Träume. Sie wollen die Tochter heiraten sehen oder Oma werden. Da sagt man sich oft: Warum muss das jetzt so sein?

Wie gehen Sie damit um?


Ich versuche mich abzulenken, beispielsweise über Gespräche mit dem Team. Der Austausch ist sehr wichtig: Wir weinen und lachen zusammen. Dank des Sports laufe ich mir die Seele frei und ich genieße gerne die Natur. Freunde und Familien sind natürlich weitere Kraftquellen.

Kann man es überhaupt erlernen, nach einer Phase der intensiven Betreuung so einfach „loszulassen“?


Bis zu einem gewissen Prozentsatz kann man es sicherlich lernen, aber das Herz kann nicht immer abschalten.

Warum haben Sie besonderes Interesse an der Palliativmedizin entwickelt?


Als achtjähriges Kind saß ich bei der Oma und machte eine Sitzwache, weil sie nicht alleine bleiben wollte. Ich erkannte: Es war keine Belastung für mich. Für die berufliche Welt haben andere Menschen meine Eignung entdeckt. So ist das gewachsen, eines ging ins andere über, wozu auch der Tod meines Partners gehörte. Man kann es nicht trennen, und das alles macht mich heute aus.

Welche Rolle spielt der Glaube?


Dieser ist eine tragende Säule in meinem Leben. In den Begegnungen mit den Menschen begegne ich oft Gott. Ich „telefoniere“ häufig mit ihm, das klingt weniger streng als beten und sympathischer. Wenn mir die Kraft ausgeht, dann hoffe ich, dass er wieder einsteigt und ich weitermachen kann.

Sie selbst sprechen nicht von Patienten, sondern von Menschen mit ihren eigenen Geschichten. Halten Sie die Erinnerungen fest?


Leider nicht. Viele Menschen sprechen mich darauf an, weil sie sehen, dass ich Wunderschönes aus diesen Begegnungen erzählen kann. Ich sollte wirklich damit beginnen… Ich habe es nicht so mit Namen, aber die Geschichten und Begegnungen mit den Menschen sind in mir verankert.

Wie sieht das Team im Eupener Krankenhaus aus? Fühlen Sie sich in Ihrer Arbeit ausreichend wertgeschätzt?


Man nennt uns mobiles Palliativpflegeteam, da wir nicht nur auf einer Station wirken. Die Sterbekultur soll überall Einzug halten, daher wandern wir alle. So werden auch die Pfleger auf allen Stationen sensibilisiert und das „neue Sterben“ erlernt. Zu unserem 15-köpfigen Team gehören Onkologen, Schmerztherapeuten, Psychologen, Ehrenamtliche, Klinikseelsorger, Diätassistentin und Pflegende. Die Akzeptanz im Haus selbst ist über zwei Jahrzehnte gewachsen. Da ich nur punktuell von den Ärzten begleitet werde, muss ich viele Entscheidungen treffen – und da ist im Laufe der Jahre ein tolles Vertrauensverhältnis gewachsen. Sonst könnte es ich es so nicht so leben wie ich es lebe.